Sprache und Geschlecht
- Autor(en)
- Martin Reisigl, Constanze Spieß
- Abstrakt
Blieb die Annahme der Binarität der Geschlechter in der einschlägigen Debatte jahrzehntelang unhinterfragt, so ist mittlerweile die Tendenz zu konstatieren, das bipolare Geschlechterweltbild zu dekonstruieren. Beispielsweise werden heute in institutionellen Zusammenhängen der Bildung und Verwaltung über Leitfäden verschiedene Formen geschlechtergerechten Sprachgebrauchs propagiert, die der Zweiteilung der Geschlechter und der Heteronormativität entgegentreten und eine Pluralität von Geschlecht und Geschlechtsidentität markieren. Ziel solcher Ratgeber ist es, sprachliche Diskriminierung zu verhindern. Gegenwärtige Bemühungen dieser Art kristallisieren z. B. im Leitfaden der AG Feministisch Sprachhandeln an der Humboldt-Universität Berlin oder im Leitfaden der Universität Leipzig, die beide zum Gegenstand heftiger medialer Debatten wurden.
Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen wird etwa die Frage erörtert, inwieweit ein nominalisiertes Partizip Präsens zur Bezeichnung von Personen (z. B. „die Studierenden“) tatsächlich als geschlechtsneutrale Form rezipiert wird oder nicht vielmehr eine Tendenz zur maskulinen Repräsentation von Geschlecht favorisiert. Kontrovers diskutiert wird die Frage, inwiefern eine Resignifikation von Geschlecht durch den „dynamischen Unterstrich“ (z. B. Stu_dentin) oder die x-Form (z. B. Studierx) sinnvolle Wege der sprachlichen Repräsentation von Geschlechtspluralität sein können, die das Binnen-I ablösen, welches die Zweiteilung der Geschlechter fortzuschreiben scheint. Gefragt wird in diesem Zusammenhang auch, ob die Einführung widerständiger Resignifikationsformen mehr als nur ein Minderheitenprojekt sein könne und ob das Wuchern sperriger multipler Geschlechtsmarkierungen klassische feministische Anliegen vielleicht gar schwächen könnte.
Ausgehend von derartigen Diskussionen zu sprachpolitischen und sprachsystematischen Belangen im Hinblick auf gendergerechtes Sprechen und Schreiben versammelt OBST 90 Beiträge, die die Möglichkeiten geschlechtergerechten Sprachgebrauchs in verschiedenen Sprachen – sozusagen sprachvergleichend und aus verschiedenen linguistischen Perspektiven – ausloten und mit sprachpolitischen Regelungen sowie der Sprachpraxis der Sprachteilhaber*innen ins Verhältnis setzen. Der Band schließt damit an bisherige Studien zur geschlechtergerechten Sprache an, um Rückschau zu halten, neue Perspektiven aufzuzeigen und Forschungslücken zu schließen. Der Band ist international ausgerichtet und bietet empirisch fundierte Untersuchungen zur Sprachpraxis. Er stellt einen wichtigen Beitrag dar für die Fachwissenschaft der Linguistik, aber auch über linguistische Fachgrenzen hinaus.- Organisation(en)
- Institut für Sprachwissenschaft
- Externe Organisation(en)
- Universität Münster
- Band
- 90
- Anzahl der Seiten
- 259
- Publikationsdatum
- 02-2017
- Peer-reviewed
- Ja
- ÖFOS 2012
- 602007 Angewandte Sprachwissenschaft
- Schlagwörter
- Link zum Portal
- https://ucrisportal.univie.ac.at/de/publications/d6416e00-4fe9-4685-8f5b-ae63b8421731