Geschlecht als Anerkennungsverhältnis

Autor(en)
Elisabeth Holzleithner
Abstrakt

Die Verfassungsgerichte in Österreich und Deutschland haben in den Jahren 2017 und 2018 aufhorchen lassen: Sie judizierten, dass ein positiver personenstandsrechtlicher Geschlechtseintrag auch jenseits von männlich und weiblich, die sogenannte „Dritte Option“, als verfassungsrechtlich geboten anzusehen ist. Damit kamen die beiden Verfassungsgerichte einer langjährigen Forderung der intergeschlechtlichen Community und ihrer Verbündeten nach, die auf legislativem Wege bis dahin nicht umzusetzen war. So hatte der deutsche Gesetzgeber in einer auf internationalen Druck angestrengten ersten Reform des Personenstandsgesetzes bloß die Möglichkeit eröffnet, den Geschlechtseintrag bei Vorliegen einer Intergeschlechtlichkeit offen zu lassen. In Österreich hatte es gar keine gesetzgeberischen Aktivitäten gegeben. Im Gefolge der höchstgerichtlichen Judikate soll nun eine nicht-binäre Geschlechtsidentität Grundlage für einen entsprechenden Geschlechtseintrag sein können – unter welchen Voraussetzungen, das galt es zu klären.

Der vorliegende Beitrag widmet sich den dadurch angestoßenen, in der rechtswissenschaftlichen Geschlechterforschung schon lange thematisierten, ganz grundlegenden Fragen der Anerkennung individueller geschlechtlicher Entfaltung vor dem Hintergrund des Postulats, dass es Aufgabe des Rechts ist, die Bedingungen gleicher Freiheit zu gewährleisten. Recht schafft die Rahmenbedingungen dafür, wer wir – auch und gerade im Hinblick auf unser Geschlecht – füreinander sein können. Dabei ist in den letzten Jahrzehnten eine rasante Entwicklung zu beobachten. Sie umfasst die Geschlechterbeziehungen in ihrer Gesamtheit. Das beinhaltet nicht nur die rechtliche Fassung der Kategorie Geschlecht, sondern auch die Möglichkeit, Beziehungen unabhängig vom Geschlecht der beiden Partner*innen rechtlich-institutionell anzuerkennen. So haben Österreich und Deutschland in kurzem zeitlichem Abstand die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Die Erweiterung der rechtlichen Anerkennungsbeziehungen lässt sich als Prozess der Emanzipation durch Recht im Sinne einer Freisetzung individueller Autonomie rekonstruieren, und zwar als gleiche Freiheit im Sinne einer rechtlich verbürgten individuellen Entfaltung in Beziehungen mit anderen. Der Fokus des vorliegenden Beitrags liegt auf der Öffnung der Kategorie des Geschlechts, wie sie etwa in postkategorialen Ansätzen gepflogen wird. Um verstehen zu können, wie weitreichend der rechtliche Umschwung ist, widmet sich der Text zunächst den (Leidens-)Wegen versagter rechtlicher Anerkennung für intergeschlechtliche Personen bis zu dem Punkt, an dem die Verfassungsgerichte ihr grundrechtliches Machtwort gesprochen haben. Die beiden Entscheidungen werden ausführlich dargestellt und einer kritischen Analyse unterzogen. Schließlich befasst sich der Text mit den Vorschlägen zur Reparatur der grundrechtswidrigen Bestimmungen. Dabei wird insbesondere zu fragen sein, inwieweit die neuen rechtlichen Lösungen dem Prinzip der Selbstbestimmung gerecht werden – auch angesichts dessen zunehmend stärkerer Positionierung in der Medizin, auf die sich das Recht routinemäßig stützt. Es wird sich herausstellen, dass hier einige Desiderata verbleiben. Vor deren Hintergrund wird eine geschlechtertheoretisch fundierte Perspektive vorgeschlagen, die geeignet erscheint, das grundrechtliche Versprechen angemessener rechtlicher Anerkennungsverhältnisse einzulösen.

Organisation(en)
Institut für Rechtsphilosophie, Forschungszentrum Religion and Transformation
Externe Organisation(en)
Forschungsverbund "Geschlecht und Handlungsmacht - Gender and Agency"
Journal
Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge
Seiten
357-385
Anzahl der Seiten
28
ISSN
0075-2517
Publikationsdatum
06-2019
Peer-reviewed
Ja
ÖFOS 2012
505012 Öffentliches Recht, 505006 Grundrechte, 505033 Antidiskriminierungsrecht, 504014 Gender Studies
Schlagwörter
Link zum Portal
https://ucrisportal.univie.ac.at/de/publications/c692e8f8-07eb-4387-85f5-d2db5ff0a537