Geteilte Mäntel, ein Hauch von Fasching und ein neuer Martinskult

Autor(en)
Martin Scheutz
Abstrakt

Bis ins 20. Jahrhundert sorgte die Ausrichtung des Martinsfestes für Spannungen zwischen den Konfessionskulturen im Bereich des heutigen Österreich. Als das Burgenland 1921 als neues Bundesland zur jungen und orientierungslosen Republik „Deutsch“-Österreich kam, konnte man sich zwar im östlichsten Bundesland rasch auf ein Wappen (1922/23) einigen, die Suche nach einer neuen Hymne und nach einem neuen Landesfeiertag gestaltete sich allerdings schwierig. In Abgrenzung vom alten ungarischen Landespatron Stefan und seinem Patronatsfest am 20. August suchten die Parteien des Landes zur Stabilisierung der neugewonnenen Landesidentität intensiv nach einem neuen Landesheiligen. Unter Rückgriff auf das im Burgenland häufige Patrozinium des Martin entschied sich die burgenländische Landesregierung schließlich für den Heiligen Martin. Mit 10. Dezember 1924 wurde der Heilige Martin offiziell zum Landespatron bestellt, den Martinsfeiertag (11. November) beging man damit im Burgenland als Doppelfeiertag mit dem österreichischen Staatsfeiertag am 12. November. Vor allem die evangelische Kirche des Burgenlandes bzw. der Oberkirchenrat in Wien erhoben massive Vorbehalte gegen diesen neuen Landesfeiertag, weil es sich dabei um einen „katholisch-kirchlichen Feiertag“ handelte. Noch 1926 teilte der Oberkirchenrat empört der Burgenländischen Landesregierung mit, dass es sich „bei dem Martinstag um einen Feiertag handelt, der vom päpstlichen Stuhl angeordnet wurde, somit um einen katholisch-kirchlichen Feiertag“.
Diese zeitgeschichtliche Kontroverse zweier Konfessionskulturen lässt sich auch als eine Verlängerung der frühneuzeitlichen Auseinandersetzungen um die Martinsverehrung zwischen der protestantischen und „altkirchlichen“ Richtung verstehen. Der Festtag des „strengen“ Heiligen Martin verstand sich europaweit bis zur Französischen Revolution als wichtiger Zins- und Pachttag, aber auch als ein beachteter Liefer- und Gesindetermin, zudem als ein unmittelbar vor einer Phase der vorweihnachtlichen Fasttage angesetzter Tag des jungen Weines, des Fleischkonsums, der kalorienreichen Geschenke (in Form von Gebäck) und der Gelage. Man könnte von einer Art vorweihnachtlichem Faschingsfest sprechen, dem vor allem die adelige und bürgerliche Schicht, aber auch die Spitäler und die Klostergemeinschaften „gut“ zusprachen. Im bäuerlichen Bereich gab es zudem die Hirtensprüche zu Martini, die rituell einen Teil des Lohnes einforderten. Mit der einsetzenden Reformation erhielt diese hagiographische Festtagspraxis einen Bruch, weil sich die reformatorische Strömung massiv gegen die Heiligenverehrung wandte und dafür ersatzweise neue Termine und eine neue Gedächtniskultur (etwa neue Jubiläen) in Kraft setzte. Der Kult um den Heiligen Martin (auch auf Ebene der Patrozinien) wurde in protestantischen Gebieten zugunsten der Lutherverehrung in Frage gestellt, aber viele der altkirchlichen Praktiken wurden sicherlich auch in einer praxeologischen Mischform der Festkultur weiterverfolgt. Ikonographisch stand auf katholischer Seite der altertümliche, mantelteilende Martin, der in der Neuzeit dann zunehmend mit Gänsen in Verbindung gebracht wurde, einem neuen, prophetischen Heiligen gegenüber. In der Frühen Neuzeit trat der mantelteilende ritterliche Martin zugunsten des wein- und gänsespendenden Martin allmählich zurück.
Die Auswirkungen der Reformation auf das Martinsfest in mono- und gemischtkonfessionellen Räumen ist bislang kaum erforscht, ein Großteil der Forschungsliteratur thematisiert entweder mittelalterliche Praktiken oder erörtert das Martinbrauchtum des 19. und 20. Jahrhunderts. Es bleibt weiteren Fallstudien vorbehalten zu erforschen, wie sich etwa die Räume des Martinspraktiken (etwa Wirtshäuser, Kirchen, Kirchweihfeste oder bürgerliche Schießstätten – etwa beim Gänseschießen) unter dem Einfluss der Reformation änderten und wie sich die Konkurrenz des alten Bischofs von Tours zum neuen protestantischen Martinskult in Zeiten der Konfessionalisierung auf alltagspraktischer Ebene gestaltete. Auch wäre interessant zu sehen, ob sich die altkirchlich kukanische Ausformung des Martinsfestes nach der harschen reformatorischen Kritik des 16. Jahrhunderts im protestantischen Bereich dramatisch änderte. Neben diesen rituellen Differenzen der Konfessionskultur bei der Begehung des Martinstages wären auch die sozialen, geschlechtergeschichtlichen und räumlichen Unterschiede bei den Feierlichkeiten breiter zu untersuchen, etwa Differenzen von Stadt und Land, von Wein- und Getreideregionen. In globalgeschichtlicher Sichtweise wäre es interessant, den „Export“ des Martinsfesttages in die europäischen Kolonien zu verfolgen.

Organisation(en)
Institut für Geschichte, Institut für Österreichische Geschichtsforschung
Journal
Archiv für Kulturgeschichte
Band
98
Seiten
95-133
Anzahl der Seiten
39
ISSN
0003-9233
DOI
https://doi.org/10.7788/akg-2016-0104
Publikationsdatum
07-2016
Peer-reviewed
Ja
ÖFOS 2012
601012 Mittelalterliche Geschichte, 605002 Kulturgeschichte, 603908 Religionsgeschichte, 601014 Neuere Geschichte
Schlagwörter
ASJC Scopus Sachgebiete
Cultural Studies, History
Link zum Portal
https://ucrisportal.univie.ac.at/de/publications/geteilte-mantel-ein-hauch-von-fasching-und-ein-neuer-martinskult(7a8e96f3-4702-4226-90c8-054678ae0803).html