Geschlecht, „Rasse“ und Gehirn

Autor(en)
Bernhard Leitner
Abstrakt

Das 1882 durch Heinrich Obersteiner (1847–1922) gegründete Neurologische Institut in Wien war eines der ersten designierten interdisziplinären Laboratorien für Hirnforschung. Durch den Fokus auf postgraduale Weiterbildung und internationale Vernetzung wurde es zum Vorbild für eine ganze Reihe an neurologischen Instituten weltweit. In einer Zeit, als die Neuroanatomie erst in ihren Kinderschuhen steckte, existierten hinsichtlich der Funktionsweise des Gehirns unterschiedliche Lehrmeinungen, darunter weitläufig akzeptierte Annahmen unterschiedlicher Qualitäten von „männlichen“ und „weiblichen“ Gehirnen oder von Gehirnen von „Weißen“ und „Schwarzen“. Am Neurologischen Institut in Wien wurden diese durch Forscher wie Emil Zuckerkandl (1849–1910) und Johann Paul Karplus (1866–1936) allerdings um 1900 empfindlich in Frage gestellt. Der Beitrag geht der Frage nach, wie sich die bisher unbeachteten Studien der beiden jüdischen Anatomen im zeitgenössischen Diskurs zu „Rasse“ und „Geschlecht“ verorteten und ob sie explizit oder implizit als Kritik an dominanten Ansätzen gesehen werden können. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf der Rekonstruktion der am Neurologischen Institut unternommenen Forschung und auf einer Analyse der Möglichkeitsbedingungen zur Publikation derselben. Die weitere Verbreitung dieser Forschungsergebnisse über die engere Fachgemeinschaft hinaus spielte dabei eine wichtige Rolle. Dies wird im Anschluss an die Aufarbeitung der Genese des europäischen Überlegenheitsgedankens in der Hirnforschung historisch-institutionell expliziert. Die wissenschaftshistorische Rekonstruktion der Debatte über „rassische“ und geschlechtliche Unterschiede in der Hirnanatomie gewinnt durch aktuell geführte Diskussionen in den Neurowissenschaften über solche Differenzen erneut an Brisanz.

Organisation(en)
Institut für Ostasienwissenschaften, HR Operations
Journal
Medizinhistorisches Journal
Band
58
Seiten
162-190
Anzahl der Seiten
29
ISSN
0025-8431
DOI
https://doi.org/10.25162/mhj-2023-0006
Publikationsdatum
09-2023
Peer-reviewed
Ja
ÖFOS 2012
603123 Wissenschaftsgeschichte, 601016 Österreichische Geschichte, 601028 Geschlechtergeschichte
Schlagwörter
ASJC Scopus Sachgebiete
Medicine (miscellaneous), History and Philosophy of Science
Link zum Portal
https://ucrisportal.univie.ac.at/de/publications/4a583f80-9c9a-4ea7-ba03-12cea5073018