History as Performance

Autor(en)
Dietlind Hüchtker
Abstrakt

Galizien um 1900: Drei hoch gebildete Frauen engagierten sich für eine bessere Gesellschaft, Maria Wysłouchowa, Aktivistin der polnischen Bauernbewegung, Natalja Kobryns’ka, ruthenische Feministin, und Rosa Pomeranz, Zionistin. Sie sahen sich verschiedenen Nationalitäten verpflichtet und verfolgten unterschiedliche Ziele. Dennoch arbeiteten sie mit ähnlichen politischen Mitteln, sie schrieben feuilletonistische und literarische Texte, gründeten sozialreformerische und bildungspolitische Vereine, knüpften personelle wie organisatorische Netzwerke über die Grenzen des Kronlands und des Imperiums hinweg.
Die Studie widmet sich der Entstehung von identity politics und deren Praktiken: den vorgestellten Kollektiven, der Konstruktion von Wahrheiten durch Geschichte und der Einübung von Partizipation und neuen sozialen Hierarchien. Die Bewegungen etablierten die Vorstellung von imaginierten Kollektiven, Frauen, Bauern, Juden, sie inszenierten eine lineare Unterdrückungsgeschichte und leiteten aus dem Engagement der Gegenwart eine gestaltbare Zukunft ab. Mit ihren Vertretungsansprüchen verbanden sie die Partizipation der Kollektive mit der Herausbildung neuer sozialer Hierarchien entlang von (akademischem) Wissen und Bildung und kreierten eine Praxis der konkurrierenden Wahrheiten – oder Geschichtsdeutungen. Obwohl die konkreten Ziele der Bewegungen selten und wenn, dann meist verzögert, erreicht wurden, übten sie neue Formen des Politik Machens ein, die die identity politics begründeten, deren imaginierte Kollektivität, Wahrheitsanspruch und Visionen von einer besseren Gesellschaft bis heute Relevanz haben.
Um dies zu zeigen hat die Studie einen Ansatz der performativen Performance entwickelt, der die theatralischen Aspekte der Politik mit ihrer wirklichkeitsrelevanten und -erzeugenden Praxis verknüpft. Das erste Kapitel stellt die drei Frauen als Mitwirkende vor, das zweite analysiert ihre Texte als Stücke, das dritte die Orte der Politik, die Vereine und Initiativen als Bühnen und das vierte die Aufführungen als Begegnungen mit dem Publikum. Die Analyse der Politik der Frauen als eine Performance mit Mitwirkenden, Stücken, Bühnen und Auftritten hat die Kunst der Herstellung von Kollektiven, Positionierungen und Wahrheiten in Kommunikation mit den Adressat/innen, Gegner/innen und Mitstreiter/innen, die Ritualisierung von politischen Praktiken und die Performativität von politischen Sprechakten aufgezeigt. Die Narrative der identity politics gestalteten neue politische Vorstellungen und Praktiken, sie schufen Räume, in denen sich die führenden Köpfe der Bewegungen als politische Subjekte begegneten und die eheliche Partnerschaft und politisches Engagement ebenso verbanden wie Familie und Öffentlichkeit. Vor allem inszenierten die Bewegungen eine gleichermaßen partizipative und hierarchische Beziehung zwischen Führung und Basis und etablierten die partizipatorische Deutungshoheit von Bildung. Betrachtet man Mitwirkende, Stücke, Bühnen und Auftritte zusammen, so erschließt sich die Performance: eine hierarchisierte Partizipation in einer politischen Arena. Sie handelt von der Politisierung von Bildung und Sozialpolitik als ein Angebot, die Zukunft zu gestalten und zu erproben, von einem Wissen, das an Institutionen gebunden und akademisch fundiert war, von der Machbarkeit einer als besser erachteten Gesellschaft, von Wegen zur In- und Exklusion sowie über Machtverteilung und Deutungsverschiebung. Die Performance eröffnete den Aktivist/innen einen Weg zu einer neuen, mit akademischem Wissen legitimierten Elite als Gestalter/innen der Welt. In den Formen des Erzählens und Gestaltens waren sich die Bewegungen bei aller ideologischen Differenz daher außerordentlich ähnlich.
Die Studie ist ein Vorschlag, wie man die Geschichte sich national verstehender politischer Bewegungen schreiben kann jenseits national- und politikgeschichtlicher master narratives. Sie zeigt, wie ein geschlechtergeschichtlicher Ansatz zu einer allgemeinen Geschichte – hier der politischen Praxis um 1900 – beiträgt. Das Konzept der performativen Performanz als darstellungsstrukturierend hat nicht nur die generellen Veränderungen der politischen Praxis sichtbar gemacht, sondern auch eine neue historische Erzählweise entwickelt. Die Studie ist damit ein Beitrag zur aktuellen Bedeutung von Authentizität, populärer Geschichte und populistischer Narrative über kollektive Benachteiligung, deren Wahrheitsanspruch und Wirklichkeitsrelevanz nicht durch eine dekonstruktivistisch informierte Analyse als Erfindung entkräftet werden kann.

Organisation(en)
Fakultätszentrum für transdisziplinäre historisch-kulturwissenschaftliche Studien
Anzahl der Seiten
386
Publikationsdatum
2021
ÖFOS 2012
601014 Neuere Geschichte
Schlagwörter
Link zum Portal
https://ucrisportal.univie.ac.at/de/publications/3172aeb2-6ea9-4907-8505-7e58c47de77f